Die Entspannungsfähigkeit lässt sich mit Hilfe der HRV feststellen. Aber was tun, wenn die HRV-Werte schlecht ausfallen? Es gibt einige einfache Übungen, mit denen die HRV verbessert werden kann.
Wenn ich von Lesern gefragt werde, wie sie ihre Herzratenvariabilität (HRV) verbessern können, kann ich meist keine einfache Antwort geben. Denn der Parasympathikus lässt sich ganz unterschiedlich aktivieren. Deswegen habe ich mich für diesen Beitrag entschieden. Zusammen mit dem Heilpraktiker für Psychotherapie Bernd Heiler will ich praxiserprobte Übungen zur Verbesserung der HRV vorstellen.
Bevor wir auf die verschiedenen Möglichkeiten eingehen, möchten wir noch erwähnen, dass wir uns bewusst nur für Übungen entschieden haben, die nichts oder fast nichts kosten und keinerlei technische Ausrüstung, wie z. B. den Qiu, den Stress Pilot oder den Spire, benötigen. Das hat gute Gründe: Wir möchten, dass Sie gleich loslegen können und von nichts abhängig sind. Fühlen Sie einfach mal selbst, was passiert!
Parameter einer guten HRV
Um die HRV zu verbessern, muss der Parasympathikus gestärkt werden – oder wie die Wissenschaftler es ausdrücken: Die Aktivierung des Parasympathikus muss erhöht werden. Eine besondere Rolle hat hier der Vagus-Nerv. Sein Wirken im Körper macht weit über die Hälfte des parasympathischen Einflusses aus. Ähnlich, aber nicht ganz so einflussreich, sind der dritte, fünfte und neunte Hirnnerv. In ihren Nervenbahnen finden sich ebenfalls parasympathische Fasern.
Bei der HRV-Messung gibt es einige Parameter wie z. B. RMSSD oder SD1, die die Aktivität des Parasympathikus widerspiegeln. Je nachdem wie sie ausfallen, lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie gut oder schlecht er regulieren kann.
Eine übersichtliche Darstellung der Ergebnisse einer Kurzzeit-HRV-Messung bietet das Spiderweb- / Rang-Diagramm des HRV-Scanners der Firma BioSign GmbH.
Die Ohrmuschel-Massage
“Über den Tragus können Ausläufer des Vagus stimuliert werden”, erklärt Bernd Heiler. “Es ist die kleine knorpelige Erhebung vor dem Eingang des Gehörgangs, die gerne von jungen Damen mit einem Piercing geschmückt wird. Zwischen Daumen und Zeigefinger wird der Tragus mindestens 3 bis 5 Minuten zweimal täglich massiert.” Die Erklärung, warum es wirkt, liefert die Polyvagal-Theorie.
Mundwinkel hoch
Lachen hat an sich schon einmal eine gute Wirkung auf den Parasympathikus, aber nicht immer ist die Situation dafür gegeben. Das innere Lächeln anzuknipsen, funktioniert eigentlich immer, auch wenn einem nicht danach ist.
Bernd Heiler beschreibt die Übung: “Denken Sie an eine liebe Person oder an eine Situation, die Ihnen Freude bereitet hat. Wenn Ihnen das schwer fällt, dann können sie sich auch ein Bild oder ein Foto anschauen, das Ihnen besonders gut gefällt. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Person oder die Situation und Sie werden bemerken, dass sich Ihre Mundwinkel von alleine etwas nach oben ziehen.
In meiner Sprechstunde wende ich die Übung sehr gerne an. Um meine Klienten davon zu überzeugen, dass sie wirkt, zeige ich ihnen bei der HRV-Messung, wie sich im Online-Spektrum Ihre HRV-Werte ändern.”
Eiswassertauchen
Das Waschbecken oder eine Schale mit eiskaltem Wasser fühlen. Etwa 4 Grad sollte es haben, was mit Eiswürfeln möglich ist. Das Gesicht wird mehrmals für 30 Sekunden eingetaucht und die Luft angehalten. Erst beim Auftauchen wird ausgeatmet. Die Wirksamkeit wurde beispielsweise in einer Studie von Kinoshita und Kollegen untersucht.
“Menschen mit Augenproblemen, wie z. B. einem zu hohen Augeninnendruck, sollten die Übung allerdings nicht ausprobieren”, warnt Bernd Heiler. Hier bietet sich aus einer Sammlung von Tipps die Alternative, die Hände unter warmes Wasser zu halten.
Gedichte aufsagen
Ein Hexameter ist ein antikes Sechser-Versmaß, bei dem sich lange und kurze Silben abwechseln. Es findet sich z. B. in Homers Ilias oder Odyssee, aber auch deutsche Dichter wie Goethe, Schiller oder Mörike verwendeten es. “Das Besondere am Hexametersprechen ist, dass sich das Zusammenspiel von Herzschlag und Atmung verbessern lässt, weil es mit etwa sechs Atemzügen pro Minute einhergeht”, beschreibt Bernd Heiler. “Dieser optimale Atemrhythmus ist auch bei Mantras oder bei Gebeten möglich.”
Powernapping
Beim Nickerchen zwischendurch ist es wichtig, den richtigen Zeitpunkt zum Aufstehen abzupassen, weil es sonst eher das Gegenteil bewirkt. “Wird zu lange geruht, fühlen wir uns danach eher gerädert als erfrischt”, so Bernd Heiler. “Den optimalen Zeitpunkt können Sie ganz einfach herausfinden: Bevor Sie die Augen schließen, nehmen Sie einen Schlüssel in die Hand und legen Sie ihren Arm locker auf einer Armlehne ab. Wenn Sie den Zeitpunkt der optimalen Entspannung erreicht haben, fällt Ihnen der Schlüssel aus der Hand. Dann ist das Powernapping abgeschlossen.”
Musikalisch ausatmen
“Singen Sie, egal was und wie, es wird wirken. Es hilft, den Parasympathikus zu stärken. Er wird beim kurzen Einatmen und längeren Ausatmen aktiviert, was automatisch beim Singen und Musizieren geschieht”, empfiehlt Bernd Heiler. “Wenn Sie Ihre Stimme nicht hören wollen, kaufen Sie sich im Spielzeugladen ein Kazoo. Das kleine Membranophon weckt Kindheitserinnerungen und macht auch großen Spaß.”
Stimm- und Körpervibrationen lösen auch das Mantra-Singen aus, wie z. B. das klassische Om (oder auch Aum). Auch hier lässt sich laut Bernd Heiler die Wirkung mit der Polyvagal-Theorie erklären.
Atmen, aber richtig
Atmen und entspannen ist nicht schwer, man muss nur wissen wie es geht. Bernd Heiler erklärt die Atemtechnik: “Man atmet kürzer ein und länger wieder aus. Zwischen ein- und ausatmen, macht man eine kurze Pause. Der Entspannungseffekt setzt beim längeren Ausatmen ein. Eingeatmet wird durch die Nase. Sie reinigt und erwärmt die Luft. Beim Ausatmen scheiden sich die Geister, ob es nun durch Mund oder Nase besser ist. Anfängern empfehle ich, bei Atemübungen immer durch den Mund auszuatmen. Meist fällt es ihnen leichter, die Luft hinausströmen zu lassen. Auch hilft das Umschalten zwischen Mund und Nase, sich noch bewusster auf die Atmung einzulassen.”
Folgende Übung empfiehlt Bernd Heiler für Anfänger: “Setzen Sie aufrecht auf einen Stuhl, mit beiden Füßen auf dem Boden. Legen Sie sich eine Hand auf den unteren Bauch und fühlen Sie, wie sich beim Einatmen die Bauchdecke hebt und beim Ausatmen senkt. Achten Sie bewusst darauf, dass Sie länger Ausatmen als Einatmen. Wichtig ist auch, dass der Atem ganz natürlich hinein- und herausfließt. Nach einiger Zeit werden Sie bemerken, dass sich ihr Herzschlag verlangsamt. Wenn Sie länger üben, werden Sie auch feststellen, dass das Herz beim Einatmen schneller und beim Ausatmen langsamer schlägt. Dieses Wechselspiel zeigt den Einfluss der Atmung auf das vegetative Nervensystem.”
Die Wirkung lässt sich hier, wie auch beim Singen und Gedichte aufsagen, mit dem RSA-Effekt erklären.
Aktive Meditation
Diese Art der Meditation wird auch Kundalini, bewegte Meditation, genannt. Sie dauert eine Stunde und folgt einem festen Programm. Es teilt sich in vier Phasen, wechselt also alle 15 Minuten. Es beginnt mit einer Viertelstunde schütteln, gefolgt von tanzen, sich hinsetzen und still liegen.
Wer mit aktiver Meditation nicht vertraut ist, wird vielleicht erst einmal skeptisch sein, aber sie wirkt und für den Ablauf hat Bernd Heiler auch eine Erklärung: “Wird eine Gazelle von einer Hyäne gejagt, dann hat sie Stress. Wenn sie ihr entkommen kann, dann wird sie sich danach erst einmal schütteln, um all die angesammelten Stresshormone loszuwerden. Die wenigsten Menschen können sofort auf den Punkt entspannen. Die bewegte Meditation ermöglicht einen einfacheren Zugang zur Ruhe und letztendlich zur Entspannung.”
Die Aussichten auf bessere Entspannung
Bernd Heiler macht Hoffnungen: “Die HRV kann jederzeit verbessert werden. Die Möglichkeiten der Verbesserungen hängen von Alter, Fitness- und Gesundheitszustand ab. Je nach Ausgangssituation kann es länger oder kürzer dauern, bis sich die HRV-Werte verbessern.” Nach jeder Übung können sich bereits kleine Veränderungen zeigen, aber für länger anhaltende Verbesserungen braucht es Durchhaltevermögen und Geduld.
Die größten Erfolgsaussichten haben all jene, die gleichzeitig auch etwas an ihrem Lebensstil ändern, wie z. B. mehr Bewegung und Pausen in ihren Alltag einbauen, für genügend Schlaf sorgen, weniger Alkohol trinken oder mit dem Rauchen aufhören. Auch das sind Maßnahmen, die den Parasympathikus stärken”, schließt Bernd Heiler.
Vielen Dank für die guten und schnell umsetzbaren Tipps!
Toller Artikel, tolle Website. Vielen Dank dafür. Ich beschäftige mich erst seit kurzum mit der HRV und möchte meine Kenntnisse weiter vertiefen.
Danke für die Anerkennung. Und viel Spaß mit den vielen interessanten Aspekten der HRV.
Hallo Frau Franke-Gricksch,
ich lese oft, dass man bei der HRV-Messung bzw. einem HRV-Training generell gleich lang ein- und ausatmen soll, ohne Pause zwischen Ein- und Ausatmung.
Wissen Sie, ob man auch länger aus- als einatmen kann, während der Messung bzw. beim Atemtraining, um die HRV positiv zu beeinflussen?
Gruß Ralph
Hallo Ralph,
ich versuche mal auf Deine Frage einzugehen, obwohl ich eigentlich keine Expertin bin.
Man muss wohl zwischen HRV-Messung und HRV-Training unterscheiden.
Bei der HRV-Messung mit geführter Atmung (auch RSA-Messung genannt) ergibt sich kein Spielraum, wenn das HRV-Messsystem seine Auswerteverfahren zweckmäßig anwenden soll. Bis jetzt kenne ich kein HRV-System, bei dem die Atemführung, außer hinsichtlich der Atemhäufigkeit, zusätzlich verändert werden kann.
Beim HRV-Training gibt es mehr Freiheiten, denn da ist eine individuelle Einstellung erforderlich. Die Herausforderung ist da eher, die für sich selbst passenden Einstellungen zu finden. Nach meinen Erfahrungen gibt es da eine Bandbreite von Smartphone-Apps. Ich habe nur mit einem kleinen Bruchteil der Apps etwas Erfahrung sammeln können. In Erinnerung ist mir geblieben, dass EliteHRV hinsichtlich Biofeedback-Atemübungen relativ flexibel ist.
Die hauptsächliche Herausforderung ist, die persönlich passende Atemfrequenz zu finden, mit der der RSA-Effekt optimal stimuliert werden kann. Dafür kann man letztendlich mit allen HRV-Systemen experimentieren, indem man Messreihen mit RSA-Messungen oder auch HRV-Messungen erstellt und dabei jeweils die Atemfrequenz variiert und den RMSSD-Wert auswertet. Das ist aufwändig. Bislang konnte ich nur eine Test-Version der App BreathTuner HRV ausprobieren, mit der das Bestimmen der optimalen Atemfrequenz erleichtert wird. Vielleicht gib es auch noch andere hilfreiche Apps.
Ich hoffe, ich konnte Deine Frage halbwegs zufriedenstellend beantworten.
Gruß, Nicole
Vielen Dank für die interessanten Tipps. Ich beschäftige mich schon seit einiger Zeit mit aktiver Meditation, Atemtechniken und HRV-Messung mit unterschiedlichen Systemen (BioSign, Kubios, HRV4Training, HeartMath Institute etc.). Es bedarf meiner Erfahrung nach wirklich Durchhaltevermögen 🙂